In einer Phase, eher gegen Ende des Pfades als am Anfang, erreicht man eine kritische Stelle, die Prajna (Weisheit) und Shraddha (Glaube, Vertrauen, Gewissheit) in einer sehr klaren Weise vereint. Die Umstände sind ein wenig erschreckend, denn sie bringen einen Sprung ins Unbekannte mit sich, einen Sprung ohne jegliche Sicherheit.
An diesem Punkt ist es, als ob du eine Straße entlanggingst und dich plötzlich am Rand eines Abgrunds befändest. Man könnte sagen, du gehst deinen Konzepten entlang, als wäre dein begrifflicher Geist ein Teil der Erde, ein Teil dessen, was dich bislang aufrecht gehalten hat. Nun hast du das Ende davon erreicht, aber du hast noch keinen Übergang vollzogen. Du stehst sozusagen immer noch am Rande des Abgrunds, du wirst immer noch zu einem gewissen Maße von deinem begrifflichen Geist, von deinem begrifflichen Rahmen aufrechtgehalten. Doch du hast die Vision von etwas, was sehr raumhaft, sehr wunderbar, sehr ehrfurchtgebietend ist, aber wirklich sehr Furcht erregend, weil es so aussieht, als wäre da nur Raum vor dir. Die Erde deiner Konzepte ist verschwunden, wenn du über den äußersten Rand trittst.
Prajna oder Weisheit hat dir also diese Vision gegeben, dich zu diesem Punkt gebracht. Wenn du diesen Punkt nun überschreitest, um die Vision zu betreten, musst du deine Konzepte überschreiten, in diese freiere Welt hinein, aber es ist eine Welt, über die du überhaupt nichts weißt. Du kennst die Welt deiner Konzepte, von dort bist du ja gerade gekommen – und du stehst immer noch am Rand. Doch nun, wenn du einen Schritt machst, bist du im Raum, und du weißt überhaupt nichts darüber. Du befürchtest, irgendwohin hinunterzufallen, du ahnst, dass du gleich fallen wirst. Was soll „fallen“ hier bedeuten? Es bedeutet, dass du deine Konzepte verlieren wirst und diese sind ja das, was deine Welt ausmacht.
Wie Trungpa Rinpoche in diesem Kontext zu sagen pflegte, ist dies die Stelle, an der du das Gefühl hast, den Boden von Samsara, der bedingten Welt, zu verlieren. Du glaubst die bedingte Existenz zu kennen, du hast dir ein Plätzchen darin eingerichtet, allein durch die Tatsache, dass du schon zwanzig, vierzig, sechzig oder wie viele Jahre auch immer lebst. Du bist nicht wirklich willens dies aufzugeben, weil du es kennst und ein bestimmtes Gefühl von Sicherheit damit einhergeht. Aber, wenn du nun von dieser Stelle aus weiterschreitest, musst du dies aufgeben. Denn, wenn du den Schritt machst, gibt es kein Zurück, darum geht es ja. Es ist leider nicht so, als könntest du das mal ausprobieren. Du kannst nicht damit experimentieren, in den Raum zu springen und dann sagen: „Moment mal, ich habe das dieses Mal gar nicht so gemeint – ich gehe den Schritt einfach wieder zurück!“. Es ist eine einmalige Angelegenheit und du solltest es ernst meinen.
Was bringt dich nun dazu, etwas so Verrücktes zu tun, das jedem gesunden Menschenverstand widerspricht? Es ist nicht Prajna. Prajna hat dir die Vision gegeben, die dir die Erkenntnis bringt, wie es sein wird – diese Art natürlicher Intelligenz, die dir sagt, dass dies die letzte Gelegenheit ist, der letzte Schritt. Prajna sagt dir all dies. Sie gibt dir vielleicht auch einen begrifflichen Hinweis, dass das Ganze mit Leerheit zu tun hat, mit dem, was jenseits von Konzepten liegt. Das klingt alles sehr gut, bis du am Rand stehst und diese netten Worte dir nichts nützen. Sie sind lediglich eine weitere Art zu sagen, dass du keine Ahnung hast. Es läuft hinaus auf: „Ich stehe am Abgrund und habe ich keine Ahnung, was als nächstes geschehen wird“. Dennoch ist da vielleicht einfach das Gefühl von Bewegung: „Ich bin von dort gekommen und dann hierhergekommen, der nächste Schritte ist nun der über den Rand“. Gesunder Menschenverstand spielt dabei nicht mit, aber es scheint einfach der nächste Schritt zu sein. Was bringt dich dazu, zu empfinden, dass dies der nächste Schritt ist? Es scheint nicht Prajna zu sein, sondern etwas Anderes. Es scheint das zu sein, was im Buddhismus auf Sanskrit Shraddha genannt wird, d.h. Vertrauen, Gewissheit oder was auch immer.
Das Interessante an diesem Punkt ist, dass es nicht künstlich hervorgebracht werden kann. Es handelt sich tatsächlich um ungekünstelten Glauben, um ungekünsteltes Vertrauen oder nicht fabrizierte Gewissheit. Du kannst dich selbst nicht dazu ankurbeln, den Schritt über den Rand zu machen, das ist einfach nicht möglich. Das, was dich über den Rand trägt, muss von anderswoher kommen. Vielleicht könntest du es Jnana nennen. Nicht das dies irgendetwas bedeuten würde, insbesondere, wenn du da am Rand stehst, hilft es dir nicht weiter zu sagen. „Oh, ich würde es nicht Prajna nennen, sondern Jnana“. Es taucht irgendwie etwas auf, etwas Echtes und Wahres, und du fühlst, dass es der nächste Schritt ist, und entgegen all deiner ichbezogenen Neigungen ist es irgendwie tatsächlich möglich, in diesen Raum zu springen. Ich kann dir nicht sagen, wie das geht oder warum es möglich ist, aber ich kann das sagen, was Buddhisten zu sagen pflegen: Es ist das Vertrauen zum Guru, zur Linie, du brauchst viele Verbindungen aus der Vergangenheit. All dies ist eine weitere Art auszudrücken, dass es sehr geheimnisvoll ist.
Es scheint aufzutauchen, es ist ein spontaner Akt in dem eben genannten Sinne, aber es hat eine Grundlage. Und diese Grundlage ist, dass du zu diesem Punkt gehst. Die Grundlage ist, dass du die Vision hast und die Grundlage ist, dass du die Übungen gemacht hast, die mit der Entwicklung von Vertrauen etc. verknüpft sind, was bedeuten könnte, dass du dich darin geübt hast, dich auf den Guru und die Linie zu verlassen. Doch nachdem du das getan hast, kommt noch ein anderes Element ins Spiel: jenes spontane Etwas, über das man nichts sagen kann. Interessanterweise steht in manchen Texten, dass du immer wieder zu diesem Punkt zurückkommst und vielleicht nicht über den Rand trittst. Dann folgt nichts weiter, und dein Geist dreht sozusagen noch eine Runde. Es ist fast so, als ob du dich umdrehen, ein wenig zurückgehen und dann zum gleichen Punkt zurückkommen würdest. Und dann wird dir eine weitere Gelegenheit präsentiert. Es stellt sich die Frage, ob du über diesen Punkt hinwegschreitest oder nicht. Und falls nicht, drehst du noch eine Runde. Der Text deutet nirgendwo an, wie es für dich möglich wird, über diesen Punkt hinweg zu schreiten. Es heißt nur, dass du kontinuierlich mit dieser Situation konfrontiert bist, bis diese besondere Inspiration in dir aufsteigt, die von nirgendwoher kommt und dich dazu befähigt, über den Rand zu treten. Dies ist alles, was ich dazu sagen kann. Hoffentlich gibt euch dies eine Vorstellung von der letzten Ebene des Gleichgewichts von Prajna und Shraddha, Weisheit und Vertrauen, denn an dieser Stelle sind sie wirklich zusammengekommen.
Merkwürdigerweise ist es so, dass du, wenn du erst einmal gesprungen bist, nicht zurückkommen kannst, weil es kein „Zurück“ gibt. Wenn du noch nicht gesprungen bist, gibt es nur ein Ding, von dem aus du springst und einen Raum, in den hinein du springen kannst. Aber wenn du in dem Zustand bist, gesprungen zu sein, dann gibt es keinen Abgrund, denn der Abgrund und das Abspringen sind beide verknüpft mit begrifflichen Konstrukten: die Vorstellung von einem festen Boden, der in Wirklichkeit kein fester Boden ist. Er scheint nur fest zu sein und dann ist da der Eindruck des unermesslichen Raumes, der ein wenig Angst macht. Aber in gewisser Weise sind beide Vorstellungen falsch. Es gibt nicht wirklich einen unermesslichen Raum. Der weite Raum vermittelt den Eindruck, ein fremdes Element zu sein. Hier der feste Boden, dort der unermessliche Raum. Doch wenn du in diesem weiten Raum wärst, würdest du erkennen, dass es ohnehin schon immer so war. Als du auf dem scheinbar festen Boden warst, warst du tatsächlich in diesem Raum, ohne es zu merken.
In gewisser Weise ist das Ganze eine Art Trick des Vertrauens und tatsächlich ist niemals irgendetwas passiert. Aber es hilft nichts, zu versuchen, dich voreilig davon zu überzeugen, weil du es nicht glauben wirst. Tatsächlich glaubst du sehr stark, dass es nicht wahr ist. Nur zurückblickend kannst du dann denken: „Mensch, war ich dumm! Es hat niemals etwas anderes gegeben als das, in dem ich jetzt bin“. Und die scheinbare Tatsache, dass es etwas gäbe, in dem du dich aufhältst, ist noch nicht einmal eine mögliche Unterscheidung, denn dann müsstest du etwas davon unterscheiden, in dem du nicht bist. Aber du warst schon immer dort. Deshalb ist das „Dort“ nirgendwo. „Dort“ bedeutet nur etwas, wenn du die Vorstellung hast, dass es etwas Anderes als „Dort“ gäbe. Und diese Tatsache, dass du denkst, es gäbe etwas Verschiedenes, lässt das, in dem du letztlich sein wirst, anders erscheinen, als es sein wird. (Gelächter..) Ich glaube, wir hören jetzt besser auf.